Meinung: „Rückschritte“ bei fortschreitender Erkrankung – werden wir wirklich wieder zum Baby?

Wenn es in Gesprächen und Interviews um fortschreitende Erkrankungen (in meinem Fall Muskelerkrankungen) geht, ist oft von „Rückschritten“ die Rede. Ich kenne diese Redewendung, sie ist allseits gebräuchlich und wurde auch von meinen Eltern regelmäßig genutzt, um gegenüber anderen Personen die Veränderungen, die mein Körper mit sich brachte zu benennen. Aber reden wir wirklich von „Rückschritten“? Wohin geht es denn zurück?

Diese Frage stellte sich mir heute ganz plötzlich zum aller ersten Mal, als ich einen tweet gelesen habe, in dem es genau darum ging … Ein Kind mit Muskelerkrankungen, das „Rückschritte“ machen würde … Seither dreht sich mein Kopf im Kreis … Die Formulierung fühlt sich komisch an und wirft viele Fragen für mich auf. Gerade im Hinblick auf die häufig stattfindende Infantilisierung von Menschen mit Behinderung umso mehr. Ich möchte in diesem Beitrag versuchen meine Gedanken im Bezug auf dieses Thema zu ordnen und für euch verständlich darzustellen. Es geht mir nicht darum, Formulierungen aus unserem Leben auszuschließen und sie pauschal als behindertenfeindlich (ableistisch) einzuordnen, sondern darum, dass wir Sprache bewusst und sensitiv einsetzen.

Was ist in diesem Kontext mit „Rückschritten“ gemeint?

Wenn eine Person eine fortschreitende Erkrankung, zum Beispiel eine Muskelerkrankung hat, so lernt diese Person, je nachdem wie sich der Verlauf darstellt, erst einmal viele oder sogar alle Dinge, die jedes andere Kind auch lernt. Dazu gehört zum Beispiel das Sitzen, das Laufen und vielleicht kann das Kind sogar eine Zeit lang ganz normal am Sportunterricht in der Schule teilnehmen, ohne einen Nachteilsausgleich zu brauchen.

Laura schiebt als Kleinkind laufend einen Puppenwagen. Das ganze geschieht offensichtlich auf einem alten Bauernhof. Es sind drumherum Gieskannen, Gartengeräte und anderes Bauernhof-Zubehör zu sehen.
Als ich etwas älter als ein Jahr alt bin, schiebe ich diesen Puppenwagen auf dem Hof meiner Großeltern.

Bricht sich mit der Zeit jedoch die Muskelerkrankung ihre Bahn, so führt das dazu, dass die Muskeln schwächer werden und Funktionen, die der Körper gelernt hat mit der Zeit schwieriger oder gar nicht mehr funktionieren. So passiert es, dass eine Person im Kindesalter das Laufen gelernt hat und im Laufe des Lebens diese Fähigkeit aufgrund des Muskelabbaus verliert.

Passiert das bei älteren Menschen, zum Beispiel Senioren oder Seniorinnen sagen wir Dinge wie „Sie baut ab“… Wir sagen damit, dass der Körper von seiner normal-Form nach und nach abweicht. Wenn wir das Leben betrachten würden wie Sisyphos, so hätten wir bei dieser Formulierung den Stein schon auf die Spitze des Berges gerollt und er würde langsam damit beginnen, an der anderen Seite wieder herunterzurollen.

Bei jungen Menschen, zum Beispiel junge Erwachsene, wird oft von „Rückschritten“ geredet. Gemeint ist damit, dass der Körper die Fähigkeiten verliert und in einen Zustand zurück verfällt, den er hatte, bevor die Funktion (zum Beispiel das Laufen) im Kindesalter erlernt hat. In diesem Fall hätte Sisyphos den Höhepunkt des Berges noch nicht erreicht und der Stein würde einfach den Berg rückwärts wieder herunterrollen. Also, alles auf Anfang. Ist das aber wirklich so? Verfällt die Person durch den Abbau der Muskulatur tatsächlich zurück in das Stadium eines Kleinkindes?

Jugendliche-Version (ca. 14 Jahre alte) von Laura fährt in einem Aktiv-Rollstuhl mit Motor-Antrieb durch eine Straße in München. Auf dem Fußbrett, zwischen den Füßen transportiert sie eine Tüte. Hinten am Rollstuhl hängt eine Deutschland-Fahne.
Mit der Pubertät schreitet meine Erkrankung fort, ich nutze einen Rollstuhl mit E-fix im Alter von ca. 14 Jahren. Das Bild entstand auf einer Klassenfahrt in München.

Sind „Rückschritte“ wirklich „Rückschritte“?

Nein! Das, was als „Rückschritt“ bezeichnet wird, entspricht für mich keinesfalls der ursprünglichen Bedeutung dieses Wortes. Was in diesem Sprachbezug als „Rückschritt“ bezeichnet wird, ist vielmehr ein neuer, körperlicher Zustand, den der Muskelaufbau mit sich bringt. Es ist eine ganz andere, körperliche Situation und fühlt sich auch, zumindest für mich, ganz anders an.

Wenn wir wirklich von einem „Rückschritt“ reden würden, hätten wir ein ähnliches Phänomen wie im Film „Der seltsame Fall des Benjamin Button“. Bildlich gesprochen würde der Körper dann nicht nur die Muskelfunktion abbauen, sondern auch den gesamten, restlichen Körper in ein früheres Stadium zurückversetzen, also auch die mentalen Fähigkeiten und wenn wir es ganz genau nehmen, sogar die Körpergröße. Da dies nicht der Fall ist, scheint es mir unpassend, von „Rückschritten“ zu sprechen, zumindest in diesem Kontext.

Wenn nicht „Rückschritt“, welche Bezeichnung passt?

Ganz pauschal kann diese Frage leider nicht beantwortet werden. Im Grundsatz ist es auch Geschmackssache und sogar individuell unterschiedlich. Ich persönlich würde von einem fortschreitenden Muskelabbau sprechen, ich nenne Dinge gern beim Namen.

Aber im Grundsatz funktioniert je nach Situation alles, was nicht darauf abzielt, dass die Person zurück ins Kindesalter versetzt wird. Natürlich gibt es Parallelen im Umfang der körperlichen Hilfe, die ein Baby/Kleinkind benötigt im Vergleich zu einer Person mit einer fortgeschrittenen Muskelerkrankung, aber das sollte aus meiner Sicht nicht als Anlass genommen werden, die Person mehr oder weniger zurück ins Kindesalter zu versetzen und sie, wenn es ganz doof läuft von außen auch so betrachten zu lassen. Wir müssen ja auch immer bedenken, dass die Formulierungen, die wir gegenüber Dritten verwenden, deren Erleben und Verhalten beeinflussen. Für mich persönlich macht es einen großen Unterschied, wenn gegenüber einer fremden Person die Ehrlichkeit besteht, dass der Körper sich in einem Abbauprozess befindet, aber ich lege auch Wert darauf, dass nicht der Eindruck entsteht, dass dieser mich zu einem größeren Kind macht. Nicht dass die dritte Person plötzlich auf die Idee kommt, mir niedlichem Geschöpf den Kopf zu kraulen oder mich gar mit Baby-Stimme anzusprechen …

Aber wie gesagt, dass alles ist meine persönliche Meinung. Es geht mir nicht darum, Ausdrücke, die sich über Jahre in unserem Sprachgebrauch etabliert haben, zu verbieten oder schlecht zu reden, ich möchte lediglich dafür sensibilisieren, dass eigentlich die Wortwahl nicht ganz korrekt ist und bei manchen Menschen, wie zum Beispiel mir, obwohl (oder vielleicht gerade deswegen) meine Eltern selbst diese Formulierung oft benutzt haben, ein komisches Gefühl auslösen kann.

1 Kommentar zu „Meinung: „Rückschritte“ bei fortschreitender Erkrankung – werden wir wirklich wieder zum Baby?

  1. Carola Hiedl 2. Juli 2022 — 13:56

    Vielen Dank für diese Gedanken. Ich erlebe als Schwerbehinderte, die die 70 Jahre überschritten hat, genau diese Reaktionen von Assistent*innen, mich in die Kindesrolle „zurück“ zu bringen. Mir fällt auf die Schnelle kein passendes Wort für die zunehmende Hilfsbedürftigkeit ein, in die ich gerate. Es passiert mir inzwischen, dass ich Stolz empfinde, wenn ich NOCH die Schnürsenkel an meinen Schuhen selbstständig schnüren kann und vergleiche diese eigene Empfindung mit der Situation, in der ich als Kind stolz auf den Zugewinn dieser Fertigkeit reagiert hatte. Insofern erleben wir schon den Verlust von einmal entwickelten Verhaltensweisen, durch den wir aber nicht zu rosigen Kindern werden – sondern zu Erwachsenen mit Unterstützungsbedarf … Das klingt sperrig.

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