„Ambulant vor stationär“ – Was wir aus Potsdam lernen müssen

Vor genau einer Woche, am Abend des 28. April 2021 wurden vier Menschen mit Behinderung in einer Pflegeeinrichtung in Potsdam ermordet. Warum wir genau heute am Welttag der Menschen mit Behinderung darüber sprechen? Weil kaum einer darüber spricht! Weil seit Jahren bekannt ist, dass in vielen Pflegeeinrichtungen und Behindertenwerkstätten unaussprechliches geschieht! Ich möchte mit diesem Beitrag die Tat einordnen, aufzeigen warum Potsdam kein Einzelfall ist und den Diskurs anregen, damit das Credo „ambulant vor stationär“ nicht vergessen wird.

Potsdam-Babelsberg, was ist im Oberlinhaus passiert?

Das Oberlinhaus in Potsdam-Babelsberg ist eine Einrichtung für Menschen mit Behinderung. Es gibt dort mehrere Abteilungen, von einem Kindergarten, über eine Werkstatt für Menschen mit Behinderung, bis zu einem Wohnheim. Diese Einrichtung gehört zu einem großen, christlichen Unternehmen, das unter dem Namen „Oberlin“ viele verschiedene Einrichtungen für Menschen mit Behinderung in ganz Deutschland betreibt. Darunter sind auch Schulen und weitere Wohnheime.

In diesem Wohnheim in Potsdam leben Menschen mit Behinderungen, teilweise schon ihr ganzes Leben lang. Wie in jeder Pflegeeinrichtungen gibt es dort Pflegekräfte und sonstiges Personal, das sich darum kümmert, dass alles seinen gewohnten Gang geht. Das heißt, dass die Pflege gemacht ist, dass die Bewohner Essen bekommen usw.

Am Abend des 28 April 2021 hat eine Angestellte mit einem Messer vier Bewohner der Einrichtung getötet. Eine weitere Bewohnerin wurde schwer verletzt und musste ins Krankenhaus.

Wie war die Berichterstattung?

In den gängigen Medien war nicht sofort eine Aufruhr zu finden. Der RBB hat immer wieder in seinen Sendungen Beiträge zum Thema gebracht, aber leider auch des Öfteren daneben gegriffen. So gab es z.B. in der Sendung ZIBB ein Interview mit einem Polizeipsychologen, der gesagt hat, dass es ein Tatmotiv sein könnte, dass die Frau die Bewohner:innen „von ihrem Leid erlösen“ wollte. Eine Aussage, die so nicht mehr in die heutige Zeit passt. Wir wissen alle, dass der Gedanke der Euthanasie in Deutschland mehr als nur einen Nebengeschmack hat. Auch ist uns allen klar, dass Leiden vor allem in Bezug auf Behinderteneinrichtungen nicht unbedingt an der Grunderkrankung einer Person festgemacht werden kann, sondern an den Umständen, in denen eine Person lebt.

In weiterer Berichterstattung wurden Anwohner:innen befragt, ein Theologe und natürlich die Leitung der Einrichtung. Außerdem auch eine Person im Rollstuhl, die regelmäßig zu Therapien ins Oberlinhaus kommt. Aber eine Person aus behinderten Kreisen, die das ganze sachlich einordnen könnte, fehlte komplett. Auch der Zusammenhang, dass der Fall Oberlinhaus kein Einzelfall ist, wird vollständig verschwiegen. Schon 2017 deckte Günter Wallraff in „Team Wallraff“ bei RTL unfassbare Zustände in verschiedenen Behinderteneinrichtungen in Deutschland auf. Auch hören wir immer wieder von Gewalttaten oder schrecklichen Zuständen in Senioreneinrichtungen und anderen Pflegeheimen.

Was mir aber vor allem fehlt, sind Talkshows und Informationssendungen darüber, was wir als Gesellschaft tun können, dass solche Taten nicht wieder vorkommen. Es gibt keinen kritischen Diskurs, keine Auseinandersetzung mit dem Thema und schon gar keine Sendungen, die konkrete Lösungsvorschläge bieten, damit das Leben in diesen Einrichtungen besser oder damit ein Leben ohne Einrichtungen möglich wird. Jedes Opfer ist eines zu viel, egal welche Art von Verbrechen.

Schon am Tag nach der Tat ebbt die Berichterstattung ab. Lediglich Twitter-Accounts und einschlägige, Behinderten-aktivistische Medien sind noch wirklich aktiv und liefern Hintergrundberichte und Informationen. Das öffentliche Interesse ist beendet.

Am meisten beeindruckt haben mich jedoch den Nerven des RBB … Es ist schon ziemlich makaber, direkt nach dem RBB-Spezial, in dem es darum geht, dass wir Menschen in einer Behinderteneinrichtung getötet wurden, den Film „Ziemlich beste Freunde“ zu zeigen. In dem Film geht es um einen Mann im Rollstuhl, der durch die Hilfe einer Assistenzkraft selbstbestimmtem lebt. Warum ist das makaber? Ganz einfach, den Menschen, die in Einrichtungen wie dem Oberlinhaus leben, wird erst gezeigt, wie gefährdet sie eigentlich sind, weil sie einem System ausgeliefert sind, dass sie nicht kontrollieren können und dann durch einen gezeigt bekommen, was sie haben könnten, wenn sich jemand für sie einsetzen würde. Leute, das ist schon heftig oder einfach ganz normale Vermeidungspolitik von Menschen ohne Behinderung.

Wie kommt es zu solch desolater Berichterstattung?

Das Problem liegt wie immer am System. Die Berichterstattung richtet sich mittlerweile nicht nur nach Relevanz eines Themas, sondern auch nach Klicks und Rückmeldungen der Nutzenden. So passiert es, dass viele Menschen mit Behinderung getötet werden und die Öffentlichkeit merkt es nicht. Menschen mit Behinderung bringen keine Klicks und sind nicht aus jeder Menschs Sicht relevant. Dabei gerät in den Hintergrund, dass eigentlich jeder Mensch zu jeder Zeit des Tages gefährdet ist, selbst in einer Einrichtung wie dem Oberlinhaus zu landen. Schon einmal zu unachtsam über die Straße gelaufen und es ist passiert. Doch es ist ja allseits bekannt, dass die menschliche Seite, die keine Behinderung hat, die eigene Verwundbarkeit ungerne anerkennt.

Auch fehlt in der Gesellschaft die Bereitschaft, Systeme zu revolutionieren und zu verändern. Wir leben sehr gerne und gemütlich nach dem Prinzip „hat ja schon immer funktioniert und niemanden gestört“. Unter diesem Prinzip legitimiert sich auch der Betrieb von Behindertenwerkstätten und Wohnheimen. Die Menschen mit Behinderung sind unter sich und fallen der Gesellschaft nicht auf. Sie stören niemanden und das ist angenehm. Niemand muss sich jeden Tag damit auseinandersetzen, dass er oder sie selbst ebenfalls verwundbar ist. Und außerdem müssen keine Strukturen geschaffen werden, die Mensch mit Behinderung in die Gesellschaft, ins Arbeitsleben und in die Bildung integrieren.

Was muss sich ändern?

Fangen wir mit der Berichterstattung über solche Ereignisse an:

Schon seit Jahren sprechen Aktivistinnen und Aktivisten der Behindertenbewegung regelmäßig mit Journalisten und Journalistinnen über inklusiv-sensitive Berichterstattung. Es ist wichtig, dass die Berichterstattung nicht nur über Menschen mit Behinderung passiert, sondern auch mit Menschen mit Behinderung. Das bedeutet nicht nur, das Pflegepersonal, Theologen und Anwohner befragt werden, sondern auch Expertinnen und Experten mit Behinderung. Für die Einordnung in den behindertenpolitischen Kontext.

Außerdem erscheint der Einsatz von Expertinnen und Experten die den Gedanken der Eugenik vertreten (siehe Beschreibung der Aussage des Polizeipsychologen) nicht zeitgemäß. Befragte Expertinnen und Experten sollten zeitgemäße Ansichten vertreten und Geschehnisse entsprechend einordnen können. Es ist nicht zielführend, ableistisches Gedankengut zu leben und zu verbreiten.

Das System Behinderteneinrichtung muss revolutioniert werden:

Aufmerksame Leserinnen und Leser meines Blogs wissen, dass ich kein Freund von Massenversorgungseinrichtungen für Schwerkranke und behinderte Menschen bin. Ich halte nichts von Pflege am Fließband und von Aussonderung. Mit Inklusion hat das nichts zu tun, nur mit der Bequemlichkeit der Gesellschaft. Weitere aufmerksame Leserinnen und Leser wissen auch, dass Gesundheitsminister Spahn bis heute nicht von seinem umstrittenen Gesetz GKV-Ipreg abgerückt ist. Im Gegenteil, das Gesetz, dass es Menschen mit Beatmung in Zukunft schwerer machen wird, zu Hause zu leben ist schon beschlossen und wird gerade in seiner Umsetzung ausgearbeitet. Dieses Gesetz wird zufolge haben, dass noch mehr Menschen mit Behinderung/chronische Erkrankung in Pflegeeinrichtungen gedrängt werden, weil die Kostenträger die Leistungen für die Intensivpflege zu Hause nicht mehr bezahlen werden. Somit wird das Credo, dass sich Deutschland vor einigen Jahren auf die Fahne geschrieben hat begraben, „ambulant vor stationär“ hieß es. Eigentlich stirbt es für Menschen mit Behinderung schon dann, wenn sie mit dem Kostenträger jahrelang über die Kostenübernahme von persönlicher Assistenz feilschen. Wenn „ambulant vor stationär“ aktiv praktiziert würde, müssten nicht jahrelange Verhandlungen darüber geführt und Gesetze erschaffen werden, die das Torpedieren.

Ach ja und ein weiteres Problem am System ist übrigens dass die Betreiber dieser Einrichtungen und Einrichtungsketten krass harte Finanzhaie sind. Seit das Gesundheitssystem, ob Krankenhaus, Pflegeheim oder Behindertenwohnheim Gewinne machen muss, um sich zu finanzieren, wurde Personal und Leistung in großem Stil abgebaut. Gelder müssen eingespart werden, denn die Kostenträger der Heimbewohner:innen drücken die Kosten auch, wo das nur geht. Es ist nicht einfach, gute Qualität zu liefern, wenn die Kostenträger die Preise drücken und man menschenwürdige Umstände anbietet.

Ach ja und was ein Pflegeschlüssel von 1:30 mit einer Pflegefachkraft macht, können wir uns sicherlich denken … Ach so, um noch mal kurz auf die Berichterstattung zurückzukommen … Das Verhalten der Mörderin wurde auch mit Überforderung begründet. Anzumerken ist hier, dass Menschen keine Überforderung darstellen, sondern Umstände. Der Umstand, dass eine Pflegefachkraft alleine mit einer Vielzahl an Bewohnern ist, kann durchaus eine Überforderung auslösen. Das Verhalten einzelner Bewohner:innen nicht.

Nach meiner Auffassung lässt sich das System Behinderteneinrichtung nicht in der Form revolutionieren, dass es im Endeffekt menschenwürdige Umstände bietet. Wir müssen das Credo „ambulant vor stationär“ wieder mehr in den Vordergrund rücken und die Kostenträger dazu verpflichten, es zu leben. Die Beratung von diesen Seiten ist einseitig und kostenorientiert. Viele Menschen, die heute in Einrichtungen leben hätten eine deutlich höhere Lebensqualität vielmehr Selbstbestimmung, wenn sie zu Hause mit persönlicher Assistenz versorgt werden würden. Um Ansprüche wie diese jedoch durchzusetzen, braucht es aktuell einen eigenen, krassen Durchsetzungswillen oder den, der Personen, die einen unterstützen (Angehörige, Betreuer). Ist dies nicht vorhanden, ist der Weg in die Behinderteneinrichtung vorprogrammiert. Also eigentlich ist die Behinderteneinrichtung in diesem Fall sogar das Abstellgleis. Eigentlich ein trauriger Gedanke, oder?

Zum Weiterlesen:

3 Kommentare zu „„Ambulant vor stationär“ – Was wir aus Potsdam lernen müssen

  1. Liebe Laura, du sprichst mir aus der Seele. Als ich noch nicht im Rollstuhl saß besuchte ich Kunden in solchen Einrichtungen und auch zu Hause. Ich konnte Himmel und Hölle beobachten. Solange der Beruf der Pfleger:innen nicht durch eine überdurchschnittliche Bezahlung aufgewertet wird, ändert sich nichts. Ich bewundere die mir bekannten Pflegekräfte, die während der Corona Pandemie in einer Demenz-WG, selber schon älter und krank, jeden Tag, bei einem Hungerlohn ihren Dienst ausübten. Ich bin auf jeden Fall für eine ambulante Pflege, aber in bestimmten Fällen ist das ambulant nicht möglich.

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  2. Carola Hiedl 5. Mai 2021 — 17:11

    Vielen Dank für diesen Kommentar, in dem wesentliche Problemfelder angesprochen werden. Die stationären Einrichtungen vom Altenheim über die Behinderteneinrichtungen bis hin zu den Werkstätten für Behinderte müssen auf den öffentlich beachteten Prüfstand.

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  3. Vielen Dank für eure Kommentare. Ich stimme zu. Die stationären Einrichtungen, Spitäler und auch Heime und Kliniken gehören nicht nur auf den Prüfstand, sondern sollten sich auch von Beratungsunternehmen aus dem Gesundheitswesen unterstützen lassen, um Missstände aufzudecken. Daher ist zurzeit die Variante ambulant vor stationär klar zu bevorzugen.

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