Menschen die auf persönliche Assistenz angewiesen sind wurden der Coronakrise schon vielfach benachteiligt. Neben fehlenden Regelungen zur Kostenübernahme von Schutzausrüstung und Diskussionen über Triage, entsteht nun ein Glücksspiel, ob Menschen mit Assistenzbedarf und deren Assistenzpersonen priorisiert geimpft werden sollen/können.
Hintergründe
Auf persönliche Assistenz sind oftmals Menschen mit Behinderungen und chronischen Erkrankungen angewiesen, die auch durchaus als sehr gefährdet gelten können, in Bezug auf einen, zu erwartenden, schweren Verlauf bei einer Infektion mit dem Coronavirus. Die Assistenzpersonen sind aufgrund des bestehenden Hilfebedarfs unverzichtbar und somit systemrelevant für ein selbstbestimmtes Leben. In der persönlichen Assistenz sind Menschen mit Behinderung/chronische Erkrankung oftmals der Arbeitgeber der Assistenzpersonen. Somit sind sie auch für die Beschaffung von Schutzausrüstung zuständig. Ein Problem dabei ist, dass die persönliche Assistenz nicht als Institution der Pflege anerkannt ist und somit kein Zugang zum Großhandel für medizinische Ausrüstung gewährt werden kann. Mal abgesehen davon, dass die Kostenübernahme für Schutzausrüstung eine individuelle Einzelfallentscheidung der Kostenträger ist und somit aus Kostengründen meistens abgelehnt wird.
Impfroulette
Beim Thema Impfungen ist das Problem auf politischer Seite zu finden, denn die Organisation wer, wann, wo und durch wen geimpft wird, ist Ländersache. Alle Bundesländer orientieren sich an der Impfverordnung. Diese orientiert sich an den Empfehlungen der ständigen Impfkommission (STIKO). In der ersten Empfehlungsversion, die zum Glück durch die STIKO überarbeitet wurde, waren die Priorisierung strikt nach Diagnose und Beruf festgelegt. Ergänzt wurde dies durch die Möglichkeit, Einzelfallentscheidungen zu treffen, wenn Menschen nachweisen können, dass sie für einen schweren Verlauf besonders gefährdet sind. Durch die Überarbeitung der Empfehlungen musste auch die Impfverordnung, die das Gesundheitsministerium zu verantworten hat, überarbeitet werden. Dies dauerte mehrere Tage. Zu bemerken ist hierbei, dass mit der Änderung der Impfverordnung jedes Bundesland auch eine Änderung im Impfverfahren organisieren muss (in diesem Fall z.B. durch die Einrichtung von Clearingsstellen). Auch dies braucht Zeit, Zeit die für Menschen mit Behinderung und chronischer Erkrankung zur Todesfalle werden kann, denn in dieser Zeit kann eine Infektion stattfinden und der Mensch schwer erkranken.
Problematisch ist, dass dadurch, jedes Bundesland eigene Regelungen hat, eigene Anlaufstellen und eigene Systeme für die Vergabe von Terminen für die Impfungen. Teilweise werden sogar innerhalb eines Bundeslandes einzelne Einzelfallentscheidungen getroffen und andere Anfragen bleiben liegen und werden nicht beantwortet. Vor allem hier in Berlin beobachte ich das gerade.
Beispiel:
ich selbst bin schon geimpft (1. Dosis AstraZeneca). Ich habe am 5. März meinen Antrag an die eingerichtete E-Mail-Adresse der Clearingstelle gesendet und wenige Tage später per Post meine Impfeinladung bekommen.
So problemlos wie bei mir scheint das nicht bei allen geklappt zu haben:
Und wir sprechen aktuell hauptsächlich von den gefährdeten Menschen mit Behinderung/chronische Erkrankung persönlich, zur Assistenz kommen wir jetzt erst.
Diese, für die Menschen mit Behinderung in ihrer Selbstbestimmung essenziellen Personen haben es noch deutlich schwerer, an einen Termin für eine Impfung heranzukommen. Der Beruf ist weitestgehend unbekannt, wird oft mit Ehrenamt gleichgesetzt oder mit gesetzlicher Betreuung. Anlaufstellen für die Anmeldung des Assistenzpersonals sucht Mensch vergebens. Gerade die Menschen mit Behinderung im Arbeitgeber:innenmodell hängen seit Wochen in den meisten Bundesländern in der Luft. Auf E-Mails wird nicht geantwortet, Anmeldungen werden ignoriert oder es müssen experimentelle Anmeldungswege ausprobiert werden. Was davon zum Erfolg führt hängt von undefinierbaren Faktoren ab.
Das Roulette um Impftermine konnte schon in allen möglichen Ergebnisvarianten gespielt werden. Einheitliche Ergebnisse gibt es nicht.
Was macht das Chaos um Impfungen mit Assistenznehmer:innen und deren Personal?
Mal abgesehen davon, dass die Bereitschaft sich impfen zu lassen in den Assistenzteams so unterschiedlich ist, wie unsere Gesellschaft vielfältig, verursacht das bewusste Erleben dieser chronischen Zustände aus meiner Sicht oftmals auch eine schnellere Entscheidung gegen eine Impfung bei Assistenzkräften, da sie mitbekommen, mit welchen Unannehmlichkeiten die Arbeitgeber:innen (Assistenznehmer:innen) zu kämpfen haben. Sie wiegen sich in Sicherheit, dass sie jung und gesund sind und wahrscheinlich keinen schweren Verlauf erwarten. Dies ist ein Trugschluss, in diesem Jahr, in dem wir nun schon mit dem Virus leben, dürfte mittlerweile jedem aufgefallen sein, dass eben nicht nur Menschen mit Vorerkrankung oder Menschen die schon ein höheres Alter erreicht haben, einen schweren Verlauf erleiden können. Deshalb ist es wichtig, dass sich niemand in einer falschen Sicherheit wiegt und dass sich die Assistenzperson impfen lassen. Gerade wenn Teams so persönlich und direkt miteinander arbeitet, ist es oftmals traumatisch, wenn eine Person sehr schwer erkrankt oder vielleicht sogar verstirbt. Im Falle des Todes des Assistenznehmers/Arbeitgebers würde das gesamte Assistenzteam sogar arbeitslos werden.
Meinung: Auch wenn ich als Assistenznehmerin und auch als Arbeitgeberin der Meinung bin, dass sich jeder gegen das Coronavirus impfen lassen sollte, gibt es bei mir keine Impfpflicht. Ich biete an, dass sich meine Mitarbeiter:innen auf die Impfliste setzen lassen können. Für alle auf der Liste setze ich mich ein, dass sie priorisiert geimpft werden. Wer das nicht möchte, muss keine Konsequenzen erwarten, denn jeder hat die Macht über den eigenen Körper und es ist die freie Entscheidung des Einzelnen, was er/sie damit tun/nicht tun möchte.
Der psychische Druck, der auf die Assistenznehmer:innen einwirkt ist auch nicht zu vergessen … Wir leben seit nunmehr einem Jahr in weitestgehender Isolation, werden mit einer Art struktureller Benachteiligung konfrontiert, setzen uns für unsere Rechte ein und laufen quasi gegen eine Backsteinwand. Es ist so gut wie unmöglich, sich selbst vollständig vor dem Risiko einer Ansteckung zu schützen, weil der Assistenznehmer/die Assistenznehmerin nicht auf die Assistenz verzichten kann. Bei manchen kann da durchaus eine Art Todesangst mitschwingen. Der ständige, wechselnde Kontakt zu Menschen, die ein Privatleben haben, das man ihnen nicht untersagen kann/möchte, ist gefährlich, vor allem dann, wenn es nicht genug Schutzkleidung, bzw. aufgrund der Verweigerung der Kostenträger keine Schutzkleidung gibt und es vom Mitleid eines Amtsarztes abhängt, ob eine priorisierte Impfung erfolgen kann, ist gefährlich. Außerdem möchte ein Mensch mit Assistenzbedarf auch glückliche Mitarbeiter haben. Glückliche Mitarbeiter gibt es dann, wenn sie auf Augenhöhe behandelt werden, wenn sie bekommen was ihnen zusteht (Coronaprämie, weil systemrelevant, Schutzkleidung, wegen Infektionsgefahr, Impfung) und wenn der Assistenznehmer oder die Assistenznehmerin freundlich und umgänglich mit Ihnen umgeht. Wie kann ein Assistenznehmer oder eine Assistenznehmerin dauerhaft loyal, freundlich und mit langem Geduldsfaden seinen Arbeitnehmern gegenübertreten, wenn er/sie unter einem dauerhaften Druck steht und eigentlich total gestresst ist, weil er oder sie in einer ständigen Ungewissheit lebt? Das ist fast unmöglich, Assistenznehmer:innen sind Menschen, Menschen die darauf angewiesen sind, dass andere Ihnen assistieren, um gleichberechtigt und selbstbestimmt leben können. Oftmals besteht der Bedarf rund um die Uhr, dementsprechend gibt es nie Feierabend. Wer kann bitte schön unter einem dauerhaften Druck freundlich und loyal sein und zusätzlich einen unendlichen Geduldsfaden haben? Niemand, das ist unmenschlich!
Abschließend möchte ich einzelne Messages an unterschiedliche Adressaten richten:
An alle Assistenznehmer:innen:
Setzt euch bitte weiter für eure Rechte und die eurer Assistenzpersonen ein. Wenn ihr genervt seid, dann kommuniziert das der diensthabenden Assistenzperson, sie kann sich dann darauf einstellen. Lasst Ärger zu, das ist menschlich.
An alle Assistenzpersonen:
Ihr seid systemrelevant. Nehmt das Angebot, euch impfen zu lassen wahr, wenn ihr es bekommt. Bitte unterstützt eure Assistenznehmer:innen, wenn diese das möchten, dabei sich dafür einzusetzen, Impfungen und Schutzmaterial zu bekommen. Seid nicht böse, wenn der Geduldsfaden doch irgendwann mal erschöpft ist, aber auch ihr sollt das nicht in euch reinfressen. Kommuniziert mit eurem Assistenznehmer/eurer Assistenznehmerin, wenn ihr euch unberechtigt als Zielscheibe des Ärgers seht.
An die Politik (Bundesebene, sowie Landesebene):
Bewegt endlich euren Arsch, wir machen nicht seit gestern darauf aufmerksam, dass es auch Menschen mit einer hohen Gefährdung für einen schweren Verlauf gibt, die zu Hause durch Assistenzpersonen versorgt werden. Öffnet eure Strukturen, macht sie barrierefrei und einfach zugänglich. Die UN-Behindertenrechtskonvention ist da auf eurer Seite. Übrigens strukturelle Benachteiligung hat bisher niemanden ans Ziel gebracht. Gleichberechtigte Teilhabe schon viel eher.
Das heißt: weiter alles immer wieder öffentlich machen; diese „Gruppe“ von vielen leidenden Einzelmenschen ist ja ganz offensichtlich seit Monaten nicht wahrgenommen worden!
Ute Altanis-Protzer Dr.med., M.A. http://www.grenzgebiete.net
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