2021 – IPREG is real

Foto: Anna Spindelndreier via Gesellschaftsbilder.de

[Dies ist eine realistisch-fiktive Geschichte, wie sie sich nach IPREG ereignen kann/wird]
Gezeichnet von Diana Mench

Das ist Klaus. Klaus hat eine fortschreitende Erkrankung und ist gerade aus dem Krankenhaus entlassen worden. Er muss jetzt dauerhaft mit einem Beatmungsgerät beatmet werden. Ohne dieses Gerät stirbt er. Er freut sich, seine Familie wieder zu sehen, mit seinen Kindern zu spielen und gemeinsam mit seiner Frau die Nächte zu verbringen. Bevor er ins Krankenhaus gekommen ist, hat er seine Pflege mit seinem selbstorganisierten Assistenzteam organisiert. Das hat immer gut geklappt, nie Probleme gegeben und jeder konnte problemlos seine Versorgung lernen. Das ist auch jetzt so, er hat sich im Krankenhaus die Versorgung des Tracheostomas und die Bedienung des Beatmungsgeräts ausführlich erklären lassen und schon die Einweisungstexte in seinen Sprachcomputer geschrieben. Außerdem hat ihn seine Frau abgeholt und sich ebenfalls einweisen lassen. Sie fühlen sich gut gerüstet, um dem Assistenzteam die bestmögliche Einweisung zu geben, damit ein selbstbestimmtes Leben für Klaus weiterhin möglich ist.

Kaum ist er jedoch zu Hause, gibt es ein Problem. Die Krankenkasse, welche bisher sein persönliches Budget für die Assistenz finanziert hat, schreibt, dass sie durch einen Mitarbeiter die Wohnsituation auf Angemessenheit überprüfen lassen. Er solle sich am nächsten Tag bereithalten und den Mitarbeiter in seinem Wohnumfeld empfangen. Aufgrund der Basis dieses Besuchs wird entschieden, ob eine Versorgung für Klaus in der eigenen Häuslichkeit durch persönliche Assistenten „angemessen“ ist. Nur in diesem Fall würde er weiter zu Hause intensivpflegerisch versorgt werden.

Klaus ist schockiert. Er fragt sich, warum eine Person, die ihn noch nie gesehen hat, die in auch nur eine Stunde in seinem ganzen Leben sehen wird, die er auch nie wieder sehen möchte, darüber entscheidet, wo er wohnen darf. Er möchte so gerne seine Kinder aufwachsen sehen, er möchte dabei sein, wie sie in die Schule kommen und er möchte erleben, wie sie zu eigenen Persönlichkeiten werden. Klaus glaubt an das Gute im Menschen. Er sagt, dass der Mitarbeiter der Krankenkasse schon sehen wird, dass es ein angemessenes Umfeld ist, in dem er lebt und dass er seinen Wunsch respektieren wird.

Der nächste Morgen, durch seinen Assistenten lässt sich Klaus anziehen, Nahrung über die PEG-Sonde verabreichen und die Beatmungssysteme wechseln. Alles klappt, nach der guten Einweisung, als hätte der Assistent nie etwas anderes gemacht.

Um 11:00 Uhr klingelt es an der Haustür. Klaus wartet schon im Esszimmer am Tisch, während der Assistent und Klaus Frau Sabine den Herrn hereinbitten und zu Klaus führen. In der Zwischenzeit hat er auf seinem Sprachcomputer einige Sätze vorbereitet, welche er seiner Meinung nach gebrauchen wird. Nachdem sich der Mitarbeiter der Krankenkasse umständlich sein Tablett zurechtgelegt hat, um Mitschriften anzufertigen, lässt Klaus seinen Computer sprechen:

„Guten Tag, ich bin Klaus. Darf ich Ihnen ein Glas Wasser anbieten?“

Der Besucher ist sichtlich irritiert, wer hat da gesprochen? Der wirtschaftliche Totalschaden ihm gegenüber bestimmt nicht, der kann ja nicht mal seinen Mund bewegen … schießt es ihm durch den Kopf. Auf Verdacht lehnt er einfach ab. Lange wird er hier sowieso nicht verweilen. Er soll ja nur feststellen, dass das häusliche Umfeld nicht für Intensivpflege geeignet ist. Er möchte sich auch gar nicht lange aufhalten, auch ihm ist es unangenehm in fremde Wohnungen gelassen zu werden und diese dann auch noch negativ bewerten zu müssen. Da spricht schon wieder die blecherne Stimme:

„Sie sind gekommen, um meine Situation zu begutachten. Soll ich Ihnen etwas über mich erzählen oder möchten Sie direkt Fragen stellen?“

Er weiß nicht wie er darauf reagieren soll, er beginnt Sabine zu befragen:

„Seit wann wird ihr Mann hier in der Häuslichkeit gepflegt?“

„Schon seit die Krankheit vor 8 Jahren diagnostiziert wurde. Eigentlich kann er ihnen die Fragen auch selbst beantworten.“ Sie deutet auf Klaus.

„Hat sich seine Situation seit der Diagnose verändert?“

„Ja, natürlich. Es ist eine fortschreitende Erkrankung, die niemand aufhalten kann. Da muss man immer mit Verschlechterungen rechnen. Wir haben es aber bisher immer geschafft, seine Assistenzkräfte individuell zu schulen und die Versorgung sicherzustellen. Auch diese Frage hätte ihnen Klaus beantworten können. Er ist doch die Person, die sie begutachten sollen, nicht ich.“

„Zeigen Sie mir bitte die Räumlichkeiten.“

Klaus und Sabine sind irritiert, der Gutachter spricht nur mit Sabine, erscheint Klaus entweder gar nicht wahrzunehmen oder nicht wahrnehmen zu wollen. Müssen Sie jetzt wirklich die ganze Wohnung präsentieren? Vom Schlafzimmer, über das Wohnzimmer, in dem sie schon sind, bis hin zum Bad? Das Persönlichste vom Persönlichsten … um die Versorgung nicht zu gefährden und eine Ablehnung aufgrund von mangelnder Mitarbeit zu erhalten, zeigt Sabine dem Gutachter das Haus. Sie beginnt in der Küche. Hier ist der Assistent gerade dabei, das Mittagessen für Klaus zu pürieren, dann das Schlafzimmer, mit dem Lüfter und dem Pflegebett und zu guter Letzt das Badezimmer mit dem Toilettenstuhl.

Nach der Führung verabschiedet sich der Gutachter mit der Aussage, er habe genug gesehen und man höre in nächster Zeit von der Krankenkasse. Diese Aussage hinterlässt bei keinem der Beteiligten ein gutes Gefühl, nicht nur weil Klaus behandelt wurde, als wäre er schon tot, sondern auch weil das Gutachten nicht länger als 20 Minuten gedauert hat. Niemand kann sich vorstellen, dass ein Mensch innerhalb von 20 Minuten einen Überblick über das gesamte Leben eines anderen Menschen gewinnen kann.

Wenige Tage später erreicht die Familie der Anruf der Krankenkasse. Das persönliche Budget wird nicht weiter gewährt, laut Gutachten ist die Unterbringung in einem Pflegeheim nicht nur günstiger, sondern auch angemessener. Man habe einen Platz in einem „wunderschönen Pflegeheim“ in der 80 km entfernten Stadt für Klaus reserviert. Er solle seinen Assistenten kündigen und am nächsten Tag zum Aufnahmegespräch dort erscheinen. Auch einen Transport habe man organisiert.

Jetzt will es Klaus wissen, er gibt den Namen des genannten Heims in die Suchmaschine seines Vertrauens ein. Was er als Antwort auf seine Suchanfrage erhält, ist eine Flut an negativen Bewertungen, Beschwerden von Bewohnern und Pflegekräften über die Zustände, den Geruch und die Überbelegung. Anscheinend ist Klaus nicht der erste beatmete Patient, der nicht mehr zu entwöhnen ist und in diesem Heim untergebracht wird.

Nach der ersten Schockstarre kehrt sein unabdingbarer Sinn nach Gerechtigkeit zurück. Er beschließt, alles Mögliche zu tun, um seiner Nachwelt dieses unsägliche Gesetz aus dem Weg zu räumen. Ob er selbst das noch erleben wird, weiß er nicht. Statt seine Koffer zu packen, lässt er sich seinen Rechner geben. Es gibt so viele deutsche Gesetze, gegen welche dieses IPREG verstößt. Wie kann es sein, dass im letzten Jahr ein wirtschaftlich orientierter Gesundheitsminister aus einem Referentenentwurf ein Gesetz machen konnte, dass gegen jegliches, geltendes Recht verstößt. Sei es die gesamte UN-Behindertenrechtskonvention oder das Recht auf freie Wahl des Wohnraums und vor allem gegen das Gesetz schlechthin: „Die Würde des Menschen ist unantastbar.“ (Art. 1 Grundgesetz). Klaus ist der Meinung, nachdem er die Bewertungen über das Pflegeheim im Internet gelesen hat, dass dort seine persönliche Würde gefährdet ist. Er liest Berichte über schlecht gelaunte Pflegekräfte, stundenlanges Liegen in den eigenen Exkrementen, weil keiner Zeit hat für die Versorgung und er liest Klagen von Angehörigen, die der Meinung sind, dass ihre liebsten noch leben würden, wenn man sie rechtzeitig abgesaugt hätte. Irgendwie macht das Klaus auch Angst. Hier, in seiner persönlichen 1 zu 1 Versorgung wird er immer rechtzeitig abgesaugt, wenn das notwendig ist. Wenn er den Informationen aus dem Internet Glauben schenkt, wird das Pflegeheim nicht möglich sein. Klar, wie denn auch? Das Pflegepersonal fehlt ja, an allen Ecken und Enden. Es wächst auch nicht auf Bäumen, wer möchte auch freiwillig unter diesen Bedingungen arbeiten? Klaus würde das nicht wollen.

Klaus bittet nach umfangreichen Recherchen seinen Nachtdienst, den Koffer zu packen. Er bittet Sabine, ihm einen Anwalt für Patientenrecht zu suchen und ihm einen Termin zu vereinbaren. Vorsichtshalber im Pflegeheim, wer weiß, ob er Begleitung zu einem Anwalt bekommen kann, wenn dort alle überlastet sind.

Er wird klagen.

Er wird Recht bekommen, spätestens vor dem europäischen Gerichtshof.

Und dann muss sich der ehemalige Gesundheitsminister, der mittlerweile Bundeskanzler ist, für diesen Skandal verantwortlich zeigen und endlich zurücktreten.


Dies ist eine Geschichte aus der Zukunft. So könnte die Welt von Intensivpflegepflichtigen, selbstbestimmt lebenden Patienten in Zukunft aussehen, wenn der Referentenentwurf IPREG (ehemals RISG) zum Gesetz wird. Der Gesetzentwurf, welcher schon durch das Kabinett gewunken wurde, enthält drastische Einschränkungen für diese Patientengruppe. Soweit darf es nicht kommen. Ich fordere alle Beteiligten auf, die Pläne zu canceln und sich wichtigeren Dingen zuzuwenden. Es gibt in Deutschland so viel zu tun, die Einschränkung der Selbstbestimmung behinderter Menschen gehört nicht dazu.

Informationen über den Gesetzentwurf und Initiativen zum Engagieren:

https://www.change.org/p/lasst-pflegebed%C3%BCrftigen-ihr-zuhause-stoppt-das-intensivpflegest%C3%A4rkungsgesetz

https://www.als-mobil.de/wp-content/uploads/Referentenentwurf_Intensivpflege-und-Rehabilitationsst%C3%A4rkungsgesetz.pdf

1 Kommentar zu „2021 – IPREG is real

  1. Es ist so unglaublich, womit sich die Politiker den lieben langen Tag beschäftigen.
    Danke für die Geschichte, die leider heute bereits der Wahrheit entspricht…

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