Ich lese viel, soziale Medien, Zeitungen und Bücher. Sprachliche Bilder mache ich sehr gerne, auch wenn ich selbst einen Artikel, eine Geschichte oder einen Post in den sozialen Medien verfasse, nutze ich sie. Es gibt jedoch ein sprachliches Bild, von welchem ich dachte, dass die Debatte darüber schon seit Jahren abgeschlossen sein müsste. Trotzdem lese ich es auch im Jahr 2020 noch viel zu häufig: „Sie ist an den Rollstuhl gefesselt“
Wenn wir dieses Bild wörtlich nehmen:
Wörtlich genommen kann müsste der Rollstuhlfahrer ja eigentlich mit einem dicken Seil und vielen Knoten an seinem Rollstuhl befestigt sein. Hast du so etwas schon mal außerhalb eines Dominastudios gesehen?
In Wirklichkeit ist niemand, zumindest keiner der mir bekannt ist, wirklich mit einem Seil an seinem Rollstuhl befestigt. Die Befestigungssysteme der heutigen Zeit sind viel moderner, verfügt über Klickverschlüsse und Polster. Man bedenke, dass ein Seil, das einen Menschen an seinem Rollstuhl befestigt, ein hohes Risiko für Druckstellen und Dekubitus-Wunden bildet.
Warum wird der Ausdruck eingesetzt?
Es ist bei vielen Medien immer noch gängige Praxis, dass ein Mensch mit Behinderung als bemitleidenswert dargestellt wird. Sprachliche Bilder unterstützen das Entstehen dieses Gefühls bei dem, der sich das Medium anschaut.
Leider ist es auch bei vielen Menschen mit körperlicher Einschränkung der Fall, dass sie sich selbst mit dem Ausdruck identifizieren. Das kann nicht nur daran liegen, dass man die eigene Situation noch nicht akzeptiert hat, sondern auch daran, dass kein anderer Ausdruck die aktuelle Gefühlslage treffender beschreiben kann. Auch hier wird unbewusst durch den Einsatz des Sprachbilds ein Gefühl beim Leser erzeugt und es verleitet ihn vielleicht auch dazu, helfen zu wollen.
Was passt an diesem Ausdruck nicht?
Ganz einfach, kein Rollstuhlfahrer fährt gefesselt durch die Stadt. Ein Rollstuhl ist ein Fortbewegungsmittel, ähnlich der Beine (wenn sie funktionieren). Er ist kein Makel, kein Schandfleck und schon gar keine Fessel. Zur Fessel wird er nur dann, wenn die Umwelt ihn dazu macht, zum Beispiel durch Treppen oder Aufzüge, durch Schwellen oder andere Hürden. Ich persönlich fühle mich auch abgewertet, wenn mich jemand als „an den Rollstuhl gefesselt“ beschreibt. Wenn ich für ein Medium interviewt werde, fordere ich immer, bevor alles veröffentlicht wird den Artikel zur Autorisierung an. Finde ich meine verhasste Floskel darin, bekommt der Artikel von mir keine Freigabe und darf nicht veröffentlicht werden. Ich gebe die Freigabe erst dann, wenn diese und andere Floskeln, die ich nicht leiden kann, aus dem Text restlos entfernt wurden.
Die Top 3 Floskeln aus der Hölle und was ich dazu zu sagen habe:
Platz 1: „Sie ist an den Rollstuhl gefesselt“–> Lasst mich frei!
Platz 2: „Sie steht nicht auf der Sonnenseite des Lebens“ –> Stimmt, ich sitze. Aber seit wann darf ich nicht mehr in die Sonne?
Platz 3: „Sie kämpft gegen [unheilbare Krankheit]“ –> Von Kampfsport verstehe ich nichts. Aber ich kann einer unheilbaren Krankheit nicht mal nebenbei „eine aufs Maul“ geben.



Sprachliche Bilder beeinflussen
Wir Menschen mit Behinderung kämpfen schon jahrelang darum, von Menschen ohne Behinderung anerkannt, gehört und akzeptiert zu werden. Immer wieder stoßen wir in unsere Aufklärungsarbeit auf Grenzen. Diese Grenzen sind nicht unüberwindbar, sie entstehen auf natürliche Art und Weise. Leider auch durch diese sprachlichen Bilder, die uns Menschen mit Behinderung in einer Weise darstellen, in der wir niemals in der Öffentlichkeit erscheinen. Sie stufen uns runter als bemitleidenswert und dieser Eindruck bleibt. Es entsteht ein Muster, das erneut gebrochen werden muss. Somit arbeiten wir gegen Windmühlen. Das Verzichten auf Floskeln wie „an den Rollstuhl gefesselt“, bedeutet nicht, dass man nicht mehr über Menschen mit Behinderung berichten darf, es bedeutet nur, dass eine Wende in der Sprach- und Formulierungspolitik geschehen muss. Vielleicht achten wir alle in Zukunft ein bisschen mehr darauf, was wir wie Schreiben und welches Bild es beim Leser erzeugen könnte. Wir werden dadurch die Welt nicht retten können, wir können uns nur das Leben und den Weg zur Akzeptanz erleichtern.
Ein sehr treffender Beitrag. Sprache und Denken sind nicht zu trennen!
Es geht auch nicht um „Sprachpolizei“, sondern um die eigene Einstellung, das durch solche blöden Floskeln beeiflusst wird.
Schöne Grüsse, Gerhard
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Liebe Laura – echt klasse Beitrag!!!!!!!
Leider ist mein Schwager Kai letztes Jahr gestorben. Er hätte seine wahre Freude daran gehabt. Er ist mit der jüngsten Schwester meines Mannes verheiratet gewesen und mit einer Muskelerkrankung geboren. Zeit seines Lebens hat er sich für Belange von Rollstuhlfahrern eingesetzt und sich auch künstlerisch mit dem Thema beschäftigt. Er hat eine eigene Website, die immer noch besteht. Vielleicht hast Du ja Lust dort mal rein zu schauen.
http://www.kaifischernetz.de/fischer/
Wir beide hatten immer einen regen Austausch über „Behindi-Filme“ oder Filme mit schrägen Inhalten und haben sie uns immer gegenseitig kopiert und zugeschickt.
Freue mich schon auf Deine zukünftigen Wort – und Bildbeiträge.
Viele liebe Grüße aus Hessen
Heide
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Liebe Laura, du kannst in deine Floskeln-die-wir-nie-wieder-hören-wollen-Liste noch das allseits beliebte „Er/sie/es leidet unter…“ aufnehmen. Bewundere immer wieder die Urteilskraft von Autoren. Mit sooo einer Krankheit muss der Mensch ja leiden. Geht ja gar nicht anders 🙂 Liebe Grüße und mach weiter so mit deinem Blog. Uli
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Du bringst es auf den Punkt – danke dafür!
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