Kommentar: Stellenausschreibungen in der persönlichen Assistenz – Wanderung auf dem Drahtseil zwischen Diskriminierung und Selbstbestimmung

Foto: Andi Weiland/Gesellschaftsbilder.de

Am 7. Dezember 2023 urteilte der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte in Luxemburg, dass Menschen, die mit persönlicher Assistenz leben, keine Altersdiskriminierung betreiben, wenn sie in der Stellenausschreibung explizit nach Menschen in einer bestimmten Altersspanne suchen.

Hintergrund:

Ein Assistenzdienst hatte im Jahr 2018 für eine Studentin mit Behinderung nach einer Assistenzkraft im Alter zwischen „18 und 30 Jahren“ gesucht. Eine Bewerberin, die älter war, hat den Job nicht bekommen, weil sie nicht in die gesuchte Altersspanne gepasst hat. Daraufhin hat die Bewerberin Klage eingereicht, wegen Altersdiskriminierung.

Der Fall landete beim Bundesarbeitsgericht, welches eine Pattsituation im Verfahren feststellen konnte. Auf der einen Seite dürfen Menschen mit Behinderung nicht aufgrund ihrer Behinderung und auf der anderen Seite dürfen Menschen nicht aufgrund ihres Alters diskriminiert werden.

Das Bundesarbeitsgericht fragte also den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte, wie mit diesem Fall umgegangen werden muss.

Die Richter*innen in Luxemburg sind zu dem Schluss gekommen, dass es wichtig für Menschen mit Assistenzbedarf ist, zu entscheiden, in welchem Alter die Personen sind, die sie unterstützen. Menschen im gleichen Alter könnten sich oftmals besser in das persönliche und soziale Umfeld einfügen.

Kommentar:

Menschen mit Assistenzbedarf bewegen sich mit ihren Stellenausschreibungen in vielerlei Hinsicht auf wackeligem Terrain. Nicht nur, weil regelmäßig Menschen in einem bestimmten Alter gesucht werden, sondern auch Menschen mit einem bestimmten Geschlecht oder ethnischen Hintergründen. Die Aussage des Europäischen Gerichtshofs bezieht sich ausschließlich auf das Thema Altersangabe in Stellenausschreibungen für persönliche Assistenz und lässt alle weiteren Fälle, die regelmäßig in Ausschreibungen auftauchen und ebenfalls unter das Antidiskriminierungsgesetz fallen, außen vor. Natürlich wäre es ein Ansatz zu sagen, dass der Europäische Gerichtshof auch bei einer Anfrage wegen einer Klage bei Geschlechterdiskriminierung ähnlich urteilen würde, aber das keine belastbare Aussage.

Auch unterstützt dieses Urteil Menschen mit Assistenzbedarf leider nicht dabei, ihre Möglichkeiten, die Stellenausschreibung zu verbreiten, auszuweiten. Große Jobportale filtern mittlerweile Stellenausschreibungen, die in irgendeiner Art diskriminierend sein könnten, automatisch raus und lassen eine Veröffentlichung nicht zu. Demnach sind die Möglichkeiten für Menschen, die Assistenzkräfte in einer bestimmten Altersspanne benötigen, deutlich eingeschränkt oder verursachen einen gewissen Mehraufwand, weil sich, ohne Angabe des gesuchten Alters, auch Menschen bewerben, die nicht der gesuchten Anforderung entsprechen. Diese müssen dann händisch abgelehnt werden.

Aber, so sehr ich Selbstbestimmung von Menschen mit Behinderung fördere und feiere, so sehr muss ich dieses Urteil leider auch kritisieren. Im vorliegenden Fall hatte sich die Bewerberin bei einem Dienstleister für persönliche Assistenz beworben, nicht in einem Arbeitgeber*innen-Modell. Bekannterweise haben diese Dienstleister mehrere Klient*innen, deren Assistenzbedarf sie decken müssen. Aus meiner Sicht wäre es von einem Dienstleister zu erwarten gewesen, dass er der Bewerberin eine Stelle in einem anderen Team in der Nähe hätte anbieten können, auf deren Anforderungsprofil sie gepasst hätte. Gerade im Hinblick auf den vorherrschenden Fachkräftemangel kann ich diese Vorgehensweise nicht nachvollziehen. Es wäre auch eine faire Geste, zu sagen ja unsere Klient*innen dürfen frei und selbstbestimmt entscheiden, welche Voraussetzungen ihre Assistenzkräfte haben müssen, aber wir unterstützen dich bei der Suche nach einer passenden Stelle in unserem Unternehmen.

Eine Differenzierung der Assistenzmodelle würde ich bei einem solchen Urteil auch den Bewerber*innen zuliebe schon angemessen finden.

Wie seht ihr das? Habt ihr im Bewerbungsverfahren schon nach Assistenzkräften mit bestimmten Merkmalen, die unter das Antidiskriminierungsgesetz fallen, gesucht? Wenn ja, welche Erfahrungen habt ihr gemacht? Schreibt es in die Kommentare!

Zum Weiterlesen:

Tagesschau: https://www.tagesschau.de/ausland/europa/eugh-behinderung-assistent-100.html

5 Kommentare zu „Kommentar: Stellenausschreibungen in der persönlichen Assistenz – Wanderung auf dem Drahtseil zwischen Diskriminierung und Selbstbestimmung

  1. Ludwig Thumbach 9. Dezember 2023 — 12:34


    Das Urteil ist mal was Erfreuliches im juristischen Paragraphendschungel. Zumindest macht der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte seinem Namen alle Ehre (diesmal völlig zurecht…).
    Leider war von obiger Rechtsprechung noch nichts vor Verfassen meiner vorletzten Stellenanzeige öffentlich bekannt.
    U.U. wäre meinem Assistenzteam einiges an Mehrarbeit und Zusatzeinsätzen erspart geblieben, die der physisch überforderten Neueinstellung, knapp vor dem Rentenalter, bei abendlichen Transfers ins und morgendlichen Transfers aus dem Pflegebett außerdienstplanmäßig zu Hilfe und in die Arbeit kommen mussten.
    Von meinen Nerven trau´ ich mich gar nicht zu reden: )
    Mental hab ich großen Respekt vor alten Menschen -, aber es sollte nicht zu Lasten anderer fremder Personen gehen -, schon gar nicht, wenns um die Versorgung HilfsbedürftigeRER geht, Teilhabe am öffentlichen Leben usw..

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    1. Hallo Ludwig,
      Danke für deinen Erfahrungsbericht. Ist natürlich nicht schön für dein Team gewesen, aber ich finde es toll, dass ihr da gemeinsam durchgehen konntet. Ich hoffe, du hast mittlerweile eine passende Assistenz gefunden?

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      1. Ludwig Thumbach 10. Dezember 2023 — 12:41

        Hallo Laura,

        danke für die Nachfrage. Heute war der Ersatz zum Probetag da. Scheint ganz so, als hätten wir mal Glück mit einem jüngeren männlichen Bewerber-, was wirklich die Ausnahme darstellt (obendrein ganz ohne Altersbegrenzungsangabe in der Anzeige) .
        Die bevorstehende Kündigung der besagten Dame fällt mir nicht leicht, aber eine Weiterbeschäftigung über die Probezeit wäre auch für das Team auf Dauer unzumutbar.
        Wir müssen ja auch an die Zukunft denken.
        lg Ludwig

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  2. Ein sehr salomonischer Kommentar zu der dargestellten Patt-Situation. Im Alltag begegnen mir als Assistenznehmerin viele kleine Pattsituationen, in denen ich abwägen muss, ob die sehr menschlichen Bedürfnisse der Assistentin (bspw. Bin zu müde, neben dem elektrischen Rollstuhl zu Fuß eine Strecke zu laufen) schwerer wiegen als meine sehr menschlichen Bedürfnisse, eine Veranstaltung zu besuchen … da würde ich mir viel mehr Austausch und Supervision für meine Rolle wünschen.

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    1. Hallo Carola,
      Vielen Dank für deinen Kommentar. Diese Situationen gibt es natürlich immer wieder. Einige Angebote zum Austausch gibt es mittlerweile. In welcher Form würdest du dir denn Austausch wünschen?

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